Fine Arts Resonanzen

Delta Galerie, Orangerie Darmstadt

... Nach eigenem Bekenntnis ist es in der Wüste, wo Tina Sackermann an das Geheimnis gerührt hat. Ich gebrauche das numinos aufgeladene Wort mit Absicht, weil hier eine Sinneserfahrung sich offenbar vertieft hat zu einer Erfahrung der Seele. In einer Selbstaussage faßt die Malerin zusammen: „Das sehr essentielle Leben nahe an den Grenzen der Existenz ist gekennzeichnet von Leere, Stille, Weite, Unendlichkeit, Einsamkeit und Licht – gleißendes, weißes, unendliches Licht – unendliches Bewußtsein. Das Innen wird leer, ruhig, zufrieden und eins mit der Natur.” Ob ihr das von Anfang an klar war oder nicht, Tina Sackermann hat etwas nachvollzogen, was wir von den Propheten des Alten Testaments, von Jesus sogar und später den Heiligen und Eremiten des Frühchristentum kennen. Auch die zogen sich in die Wüste zurück, wo ihnen die akustische Stille und die visuelle Leere gewährt war, deren sie bedurften, um ungestört vom Getriebe ihrer Gesellschaft zu sich selbst zu kommen. Wobei dieses Selbst auf einer so profunden Ebene anzusiedeln ist, daß es synonym wird mit Gott. Noch die mittelalterlichen Mystiker redeten von Stille und Leere als positiven Seelenzuständen, redeten vom weißen Licht”, als das sie die Offenbarung des Göttlichen empfanden. Und die Psychologen unserer Zeit wissen, daß ein Mensch, wenn man ihn im Labor dem unterwirft, was man „sensory deprivation” nennt, d.h. einem Entzug aller Sinneseindrücke, aller von außen kommenden Impulse, daß dieser Mensch nach geraumer Zeit dazu neigt, aus dem eigenen Inneren Visionen heraufzubeschwören, darunter durchaus solche von religiöser Gewalt. ...

... Also sucht Tina Sackermann die Wüste als Terrain der Stille und Inspiration auf, aber sie läßt sie nicht leer zurück. Anstoß zur seelischen Selbstfindung, Anstoß zur künstlerischen Weltentdeckung – welchen positiveren Wert könnte man der Wüste beimessen? Wo, wie bei Tina Sackermann, Antithesen wie Wüste und Schöpfung, Leere und Fülle versöhnt sind, wirkt eine Antithese wie die zwischen gegenständlicher und ungegenständlicher Kunst schließlich auch überholt. Zu Unrecht wird heute Wassily Kandinsky als Theoretiker ganz der letzteren zugeschlagen. In seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst” erklärt der Weggefährte von Macke und Klee unzweideutig: „Abstraktion und Realistik – alles ist heute ... dem Künstler zu Diensten gestellt.” Und: „Alle Mittel sind heilig, wenn sie innerlich-notwendig sind.” Ich glaube, daß der Maler vom Beginn unseres Jahrhunderts, der so viel Hoffnung in das spirituelle Potential des Menschen setzte, der ein neues, von der Kunst eingeläutetes Zeitalter heraufdämmern sah, ein Körnchen seiner Saat aufgegangen wüßte in dieser Malerin am Ende des Jahrhunderts und ihren Bildern aus der Stille, Bilder aus dem Licht. ...
(Dr. Roland Held, Kunsthistoriker Darmstadt, offizielle Eröffnungsrede vom 22.11.1992)




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